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Hier finden Sie ab und zu die eine oder andere vollständige Story, teils aus - auch nicht mehr bestehenden - Internetveröffentlichungen.

Neu hier:

Da die Website (und leider auch die Zeitschrift) nicht mehr existiert, hier einer meiner
Beiträge aus  "Verstärker/Zeitschrift für Kunst-und Literatur". (Druckausgaben noch wenige vorhanden)


                                         Fiebermenschen  

Als ich dem Umstand auf den Grund ging, warum ich ständig Fieber hatte und erfuhr warum, gefror mir zum ersten Mal in meinem Leben das Blut. Die Ursache des Fiebers war alles andere als Krankheit, Viren, Bakterien oder gar Verliebtheit.
 
Meine wundersame Geschichte begann mit Elvis. Ja, richtig, der King. Sein „Fever“ klang über alle Sender in jener Nacht, während es bei meinem angeblichen Vater endlich mal klappte. Trotzdem, bei den von einem Forschungsinstitut angebotenen Heterologen Inseminationen, also künstlichen Befruchtungen mit Sperma von Samenspendern, war meine Mutter dabei –  heimlich und als Versuchskaninchen, weil ihr Mann im wahrsten Sinne des Wortes nichts zu Stande brachte. Das Häschen, das dabei rauskam, war ich. Für Mama gab es Taschengeld vom Forschungsinstitut. Papa freute sich sehr über „seinen“ Sohn, der ihm laut Mama in der einen starken Stunde zwischen Mitternacht und ein Uhr des Rosenmontags gelungen sein soll. Und Elvis war dabei. F(or)ever. Inwieweit sie ihn sonst noch belogen hatte, kann ich nicht sagen. Die eine große Lüge genügte vollauf, meinen Vater sehr viel später dazu zu bringen, sich zu übergeben. Zum Kotzen fand er die Wahrheit, die er erfuhr, als ich schon groß war. So um die Vierzig. An sich kommt das häufiger vor, so ein Geständnis, und auch der Nachkomme findet sich entweder damit ab, oder er dreht durch. Oder er sucht nach seinem leiblichen Vater.

Kurz und gut, da mir ständig so heiß war, ich eine normale, durchschnittliche Körpertemperatur von mehr als 39 Grad besaß, und die Ärzte und meine Eltern sich deswegen schon lange keine Sorgen mehr machten, musste ich mich selbst finden. Von nichts kommt nichts, sagte ich mir. Abgesehen davon, dass ich wegen meiner hohen Körpertemperatur meistens großen Erfolg bei Frauen habe, die sich mit ihren verdammt kalten Händen und Füßen nachts gerne an mich kuscheln, besitze ich dadurch keine weiteren Vorteile – na ja, zum Blaumachen genügte bei Lehrern und Chefs natürlich immer ein Fieberthermometer! Und die Heizkosten halten sich schwer in Grenzen. Dafür liegt mein Kalorienbedarf irgendwo auf der Messlatte von Sumo-Ringern. Es gleicht sich halt alles aus im Leben.

Woher war ich so heiß? Instinktiv führte ich das Phänomen auf meinen unbekannten Vater zurück. War er auch ein Vulkan? Ein „Fiebermensch“?  

Mama, inzwischen ziemlich alt und senil, wollte oder konnte mir nichts dazu sagen. Nur der Name des Arztes, der damals den Eingriff durchgeführt hatte, kam über ihre Lippen: Dr. Vogel. Fieberhaft durchforstete ich alle Hinweise auf Institute, die neun Monate vor meiner Geburt an dem Verfahren gearbeitet hatten. Nichts. Natürlich, alles war streng geheim, und vielleicht sogar irgendwie militärisch-politische Forschung im kalten Krieg. Man wird schon ein wenig paranoid auf der Suche nach geheimen Unterlagen, die einen selbst betreffen! Kurz davor aufzugeben, kam mir der Zufall zu Hilfe. Ein gewisser Professor Vogel, inzwischen über achtzig und noch rüstig, antwortete mir auf meine Anfrage per Mail. Mein Name hätte ihn irritiert, denn er assoziierte ihn mit dem Namen der Mutter eines Kindes, das vor langer Zeit in einem staatlichen Forschungsprogramm gezeugt wurde. Es durfte eigentlich nicht mehr Leben, hatte es doch monatelang merkwürdige Fieberanfälle. Man gab ihm höchstens ein Jahr, und man überließ es frühzeitig der Mutter in der Gewissheit, dass sich der „Fall“ in kurzer Zeit von selbst erledigt haben würde. Dann zeugte man noch ein paar Fälle, und alle hatten angeblich keinesfalls überlebt.

Von wegen! Ich mailte ihm meine amtsärztlichen Fieberkurven der letzten Jahrzehnte, und ich konnte die Aufregung in seinen Re-Mails fast greifen. Dass ich am Leben war, noch dazu ziemlich fidel, und ohne je wirklich krank gewesen zu sein, versetzte ihn in eine Euphorie, die ihm ein vollständiges Geständnis entlockte, und ihm schließlich das Leben kostete. Die Aufregung war wohl zu viel für den alten Herrn.

Dennoch, ich lebe, und das kam so: Die Frauen, die sich zur Verfügung gestellt hatten, bekamen alle Spermien von ein und dem selbem Mann. Und jetzt kommt’s: von einem Mann, der Jahrtausende lang schockgefroren im Antarktiseis lag. Aber kein stupider Vorfahre des modernen Menschen war das. Nein, ein moderner Mensch, homo sapiens sapiens, so ein Typ mit Hirn soll das gewesen sein, vielleicht sogar ein Außerirdischer, aber das spielt hier keine Rolle. Was die Wissenschaftler herausfanden war, dass man Sperma über einen unbegrenzten Zeitraum in gefrorenem Zustand aufbewahren kann, ohne die Zeugungsfähigkeit der Spermizide negativ zu beeinflussen. So wird das heutzutage und in der Regel mit dem Material von Samenspendern routinemäßig gemacht. Raus aus’m Warmen, rein ins Kalte. Und dann wundern, wenn die Körper der so gezeugten Nachkommen vom Baby- bis zum Greisenalter versuchen müssen, sich über Gebühr warm zu halten. Könnte ja sein, dass man wieder eingefroren wird!

Also, wem ist ständig heiß? Wer hat andauerndes Fieber? Meldet euch, Brüder und Schwestern. Ihr müsst inzwischen Legion sein, da draußen …


© Peter Brand / Rosenheim

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2013 erschienen in der Anthologie Zugvögel, Edition Alfa / Portugal:


                                           Catherine, rastlos 

Harmlose Wellen plätscherten an den Strand von Niendorf an der Ostsee. Vom Meer her züngelte Dunst, der urplötzlich zu undurchdringlichem Nebel anschwoll, fast wie im Horrorfilm The Fog, Nebel des Grauens. Ein Schauder hatte Gregor wirklich erfasst: dies war sein letzter Tag an der Ostsee. Noch einmal kam er hierher, um Abschied zu nehmen vom Meer. Und wie dankte es ihm das Meer? Es versteckte sich.  
Eine Frau spazierte an der Wasserlinie entlang. Sie trug einen orangefarbenen Pulli, der sich durch das Nebelgrau abzeichnete wie ein vom Sommer übriggebliebenes Strandfähnchen. Sonst wagte sich bei dem Wetter niemand hierher. Zum Baden war es einfach zu kalt geworden. Feuchter Sand sammelte sich in Gregors Schuhen. Er kehrte um, zurück zum eingewinterten Restaurant, wo sein Wagen stand, und er die Schuhe wechseln konnte. Er lehnte sich an einen Stapel aus Klapptischen, an dem auch die Frau vorbei musste. Unsicher sah sie Gregor an, als ginge von ihm Gefahr aus. Er sagte: „Kein Badewetter heute“. Sie wackelte mit dem Kopf, zückte einen Stift und schrieb etwas auf den Rest einer losen Papiertischdecke. Catherine. Sein flüchtiger Blick auf den Schriftzug gaukelte ihm das Wort Catering vor, ein versehentliches Wortspiel, weshalb er sie irritiert anlachte. Neben dem Namen hatte sie einen geschlossen Mund gezeichnet, mit einem Pfeil, der auf ihren Namen zeigte. Von diesem Augenblick an verlief sein Ausflug an die Küste völlig anders als ursprünglich gedacht.  

Catherine war gehörlos. Sie zeigte auf sich, dann auf die Straße, die zurück in die Stadt führte. Mit den Händen zeichnete sie eine ansteigende Kurve. Gregor kapierte nicht gleich, was sie damit sagen wollte. Sie formte mit den Lippen das Wort Dorf. Sie kam vielleicht aus Brodten, einem Kaff ganz in der Nähe von Niendorf. Eine Weile ging das Gestikulieren, Lippenformen und vom Mund Ablesen weiter, für Gregor eine vollkommen neue Erfahrung. Catherine versuchte offensichtlich, ihm in ihrer Sprache etwas mitzuteilen. Als er ihr zu verstehen gab, er käme aus Bayern, schüttelte sie den Kopf und formte das Wort No. Kein Bayrisch. Kein Deutsch. Englisch vielleicht. Eu sou Português. Ihre wie schwarze Oliven glänzenden Augen achteten sorgfältig auf Gregors Mimik. Sie spielte mit ihren zarten Händen eine Gestik, die ihre Worte so verständlich machten, als hätte sie sie ausgesprochen. Es war Gregor kaum bewusst, wie er diese Art zu kommunizieren nach und nach, für jene Momente aber unglaublich schnell imitieren konnte. In Catherines nackenlangem, schwarzem Haar entdeckte Gregor ein paar hellere, graue Strähnen, die sie nicht mit Tönung kaschiert hatte. Ihre Haut war bis auf ein paar feine Furchen um Augen und Mund natürlich und glatt. Ihr Gesicht besaß die offene, selbstbewusste Ausstrahlung einer gebildeten Frau mittleren Alters. Obwohl sie sehr schlank war, wirkte sie ganz und gar nicht zerbrechlich. Immer wieder schaute sie in Richtung Meer, bekümmert, weil es kaum zu sehen war am heutigen Vormittag. Wie Gregor das Land hier denn gefalle, fragte sie auf ihre eigene Art, nachdem er ihr verraten hatte, er sei auf Urlaub in dieser Gegend. Dabei sah sie ihn so durchdringend an, als fragte sie, ob er jemanden umgebracht hätte. Es war ihr offenbar wichtig, die Antwort von einem völlig Fremden zu erfahren. Gregor gab ihr zu verstehen, er hätte sich schon ein wenig verliebt, freilich in alles Gute und Schöne, akzeptierte aber auch die weniger angenehmen Seiten. Erstaunt hob sie ihre Brauen. Kein hundertprozentiges Lob. Eine Zeit lang kreiste ihr Thema um die phantastische Küste, den Bauboom, angeblich kühle Menschen, und zuletzt lachten sie über das aktuelle Wetter, das tatsächlich erbärmlich feuchtkalt geworden war. Sie sollten es halt mal zu einer anderen Jahreszeit versuchen, schlug Gregor vor. Kurz überlegte sie, hielt ihren Kopf schief und betrachtete nacheinander sein Gesicht und seine Hände. Ihr Augenspiel sagte „sorry“, bevor ihre Handflächen für einen elektrisierenden Moment Gregors Wangen berührten. Come with me. I’ll show you a few things that you’ve ever seen before.

Sie stiegen auf die nicht allzu hohen Klippen. Der Duft von Fisch und feuchtem Salz drang in ihre Lungen und benetzte ihre Haut. Irgendwo unterhalb der Abbrüche musste das Meer sein. Ein Tier, vielleicht ein Kaninchen, flüchtete panikartig, wenn auch grundlos vor ihren Schuhsohlen. Nie zuvor hatte Gregor gedacht, wie dicht Nebel werden konnte. Natürlich kannte er das von zuhause, vom Spätherbst an Flüssen und Seen, von abgelegenen Tälern, wo der Nebel steht und man ihn schneiden kann. Aber hier war er anders. Er bewegte sich. Er lebte. Catherine zupfte an Gregors Jacke. Sie war ganz nah. Ihr Atem wärmte die Luft unmittelbar vor seinem Gesicht. Close your eyes.  
Zweifel stiegen in Gregor auf wie böse Geister. Wer war sie? Wo befand er sich eigentlich? Direkt hinter ihm brach das Ufer einige Meter tief ab. Unten ragten Felsen aus dem Sand. Wenn sie verrückt war, ihn nur einmal kräftig stieß – dann good bye. Aus einem rationell nicht erklärbaren Grund vertraute er Catherine. Sie waren sich schon einmal begegnet – altbekannte Metaphern über frühere Leben, Déjà-vu-Erlebnisse und Seelenverwandtschaft mitgerechnet. Vom ersten Augenblick an hatte Gregor gewusst, ihre Begegnung konnte kein Zufall sein. Trotz des Nebels war ihm nicht kalt. Er spürte Catherines Atem nach wie vor auf seiner Haut. Er duftete nach allem, was um sie war. Das Meer, aromatische Gewächse, Gräser, salzige Haut, blumige Schönheit – und sie streute weibliche Pheromone zum Schwindligwerden. Er tat, um was sie ihn gebeten hatte. In Erwartung eines flüchtigen Kusses schloss er seine Augen. Tausend verschiedene Düfte überfielen ihn. Catherine nahm ihn mit auf eine Reise in ihre Welt. Ein süßes, geräuschloses Beben flutete durch Gregors Leib. Als strömte das Aroma Catherines‘ Heimat Portugal in einem Schwall in ihn. Vor seinen geschlossenen Augen entstanden Bilder, die er nie erlebt hatte. Dies waren völlig neue, lebendige Momente eines anderen Menschen. Catherines Momente.

Gregor atmete die See, schwamm wie ein Fisch durch Wasser, flog wie ein Vogel über Wälder, Steppen und Felder, Ruinen und gewaltige Bauwerke, überquerte Flussmündungen. Er trollte sich durch die vor Wochen noch sommerlich brütende Hitze, stand inmitten eines Bauernhofs und genoss die Kühle, die drinnen herrschte, wanderte vorbei an Oliven- und Orangenhainen, Früchte, deren Geschmack seine Zunge streichelte. Insekten tanzten in den letzten Sonnenstrahlen eines Tages. Möwen glitten die Küste entlang. Singvögel flatterten auf. Grillfeuer, und auch der furchtbare Geruch brennender Wälder bereitete ihm Momente der Angst und des Schreckens. Das manchmal allzu karnevalistisch anmutende Treiben in Fatima mit Sinn verwirrenden Weihrauchschwaden, von Millionen Blumenblüten süßlich geschwängerte Luft berührte ihn ebenso, wie der Gestank von Trauer und wieder aufflammende Armut auf dem Land und in den Städten. Erregende, sinnliche Wahrnehmungen von leidenschaftlich liebenden Frauen veredelten die Reise zu einem Traum aus Gefühlen und Reizen, aus Impressionen und Lebenswirklichkeit. Catherine hatte ihm auf eine Art und Weise ihre Heimat nähergebracht, die sich ihm bis jetzt verschlossen hatte. Duftphantasien. Tonlos, lautlos, einfach nur still. Ein Parfüm mit für immer geheimer Rezeptur. Außer für Catherine.  

Gregor öffnete seine Augen. Die Sonne schimmerte kalkweiß durch den Dunst. Wind kam auf und vertrieb den Nebel. Catherine war fort. Gregor wagte einen Blick nach unten auf die Strandfelsen. Weiß ragten sie aus dem fahlgelben Sand wie die Gipfel von unterirdischen Bergen. Die Wellen der Ostsee rollten mit zunehmender Wucht darauf zu, umspülten sie wie eh und je. Ihr gleichmäßiges Rauschen brachte die Töne zurück. Sinnfrei rief er Catherines Namen in den Wind. Die Böen fuhren ihm kalt in die Haare. Er stieg allein zurück über den Klippenweg hinab zum menschenleeren Strand. Auf den Dünen flatterte ein zerzaustes, orangefarbenes Fähnchen landeinwärts. Catherine war weitergezogen wie die Vögel in diesem Herbst, zurück in ihre Heimat. Gregor würde ihr bald folgen, verriet er leise dem Wind, denn: „Wenn ich mich auch selbst überall hin mitnehme, komme ich doch immer als ein anderer zurück.“

© Peter Brand / Rosenheim

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(Finalteilnahme "Putlitzerpreis 2009" / 42er-Autoren:)

                                            Verschollen
 
§ 3. (1) Die Todeserklärung ist zulässig, wenn seit dem Ende des Jahres, in dem der Verschollene nach den vorhandenen Nachrichten noch gelebt hat, zehn Jahre oder, wenn der Verschollene zur Zeit der Todeserklärung das achtzigste Lebensjahr vollendet hätte, fünf Jahre verstrichen sind.

Nach diesem Satz – ist ja nur ein Auszug aus dem Todeserklärungsgesetz von 1950 – atmen wir erst einmal tief durch, bevor es noch schlimmer kommt. Das Monsterwerk, (Bundesgesetz BGBl 23/1951 idF BGBl I 112/2003), hätte auch mich herzlich wenig interessiert, wenn da nicht Claudia, vier, mit ihrem Schaufelchen im Sand gegraben hätte. Zu ihrer Verteidigung muss ich sagen, dass sie in ihrem Alter noch Windeln trug und ihre gebrauchten gerne selbst im Sandstrand des Badesees vergrub. Hundehalter amüsierten sich bestimmt köstlich, wenn ihr Fifi sie am nächsten Morgen wieder ausbuddelte … das nur nebenbei. Meine Kleine war also nicht ständig unter der Aufsicht ihrer Eltern, und Elfi und ich konnten schließlich nicht stundenlang nach ihren Hinterlassenschaften suchen, zumal ein Gewitter aufzog. Diesmal watschelte Claudia aber mit Windel am Hintern zurück auf unsere Badematte. Papi sollte mitkommen, „was zeigen“. Meine Befürchtung, Claudia hätte ihre Grabung vom Vortag ausgehoben, bestätigte sich gottlob nicht. Dafür steckte ihre blecherne Schaufel in einem weichen Etwas, das ich lieber nicht wahr haben wollte. Ich lobte Claudia für ihre zielstrebige Arbeit und rief die Polizei. So fanden wir heraus, wo mein Großonkel Alfred abgeblieben war. Der See hatte ihn freigegeben, und der Gewittersturm vom Vorabend in einer entlegenen Ecke des Strands mit Sand bedeckt. 

Der vor zwei Jahren künstlich aufgeschüttete Sandstrand wurde großzügig abgesperrt. Das aktuelle Gewitter schickte erste Windböen, und die Flatterbänder knatterten, als wären wir an der kalten Nordseeküste. (Das nur, um die Stimmung rüberkommen zu lassen, und wie Elfi und mir, vielleicht auch Claudia, zumute war.) Dass es sich um Alfred handelte, erfuhren wir erst drei Tage später, als das Wetter besser, und der Strand wieder geöffnet war. Alfreds Frau, meine Großtante Rosa, heulte bittere Tränen in die Ärmel ihres neuen Lebensgefährten, dessen Namen Elfi und ich nicht wussten. Claudia hatten wir für ein paar Tage zu Omi und Opi abgeschoben, die sich dankbar zeigten, mal wieder ihre Kindersprachkenntnisse auffrischen zu dürfen, und freilich auch Windeln zu wechseln. Die Polizei war freundlich und hilfreich, galt Großonkel Alfred doch seit gewisser Zeit als verschollen, und der Fall wäre ja nun erledigt – wenn da nicht die leidige Sache mit der Todeserklärung gewesen wäre. Großtante Rosa versicherte, Alfred habe noch gelebt, als sie ihn vor fünf Jahren zum letzten Mal sah. Er wollte sie verlassen und nach Kanada. Mit fünfundsiebzig. Dort sei er aber nie angekommen. Kein Lebenszeichen mehr seither. Na ja, und dann habe sie den Soundso kennengelernt.
Blöderweise besaß Alfred einen ziemlich großen Haufen Geld, das nur vererbt werden konnte, wenn er starb. Bis dato galt er nicht als tot. (Beachte: Solange ein Verschollener nicht für tot erklärt ist, wird vermutet, dass er bis zu dem im §9 Abs. 3, 4 – blabla – genannten Zeitpunkt weiter lebt oder gelebt hat.)
Dank unserer Kleinen konnte der nun ehemalige Verschollene aber nicht für tot erklärt werden, da er es definitiv war! Was der nette Kommissar uns, der Familie des Verblichenen, damit sagen wollte, war eine Interpretation des oben angeführten Gesetzes. Wäre Großtante Rosas Antrag auf Todeserklärung vier Monate später, zu seinem achtzigsten Geburtstag durchgegangen, hätte sie Alfreds Vermögen geerbt. Und wir einen schönen Teil davon auch. Taten wir aber nicht, weil Alfred nun mal als Leiche zur Verfügung stand. Somit konnte von einem ausgefuchsten forensischen Pathologen festgestellt werden, dass Alfred nicht natürlicherweise dahin geschieden war, sondern durch Fremdeinwirkung, was wiederum ein zertrümmerter Schädel und die Stricke an seinen Gelenken bewiesen. Na „Dankeschön“, Claudia!
Immerhin, der gewiefte Kommissar brachte Licht ins Dunkel: Der Soundso hatte Alfred vor knapp fünf Jahren um die Ecke gebracht, ihn beschwert und versenkt. Großtante Rosa hatte ihn zum ultimativen Versicherungsbetrug angestiftet, und wer weiß zu was sonst noch verführt. In ihrem Alter.

Kurz vor Ablauf der Frist von fünf Jahren nach dem Zeitpunkt seines Verschollenseins, siehe o. a. § 3. (1), spuckte also der See den aufgeschwemmten Alfred vorzeitig aus und machte ihnen einen Strich durch ihre Rechnung. Wir erbten alles. Da kann man sich nicht beschweren über unser pfiffiges Kriminalpersonal. Und über Claudia. Seit damals windelfrei.

© Peter Brand / Rosenheim
 

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Special-Edition für Portugal-Fans und solche, die es werden wollen :-) ...                                        

                                                                Umwege

                                              (Fast eine Reisereportage)

Unruhe trieb mich an, immer wieder durch Portugal zu fahren, zu suchen, und ich wusste nicht einmal, nach was. Dass es Liebe sein könnte, hätte ich nie gedacht.

Steinige, karge Gebirgswüsten wechseln mit fruchtbaren Tälern ab.
Der Wind von der Westküste hört auf. Es ist heiß geworden. Einsam. Mal liegt ein magerer Hund unter einer Schirmpinie am Straßenrand und gähnt, zu faul zum Bellen. Dann wieder döst eine struppige Katze auf dem Mittelstreifen. Ich hupe, und sie trottet träge und unentschlossen nach links, dann nach rechts, dann doch wieder nach links. In den Schatten.

Endlos windet sich die Straße über die Hügel des Alentejo. Immer neue Kehren und Schleifen fordern meine volle Aufmerksamkeit am Steuer. Und das Autoradio spielt melancholische Musik! Fado, was soviel heißt wie „Schicksal“. Seit dem 16. Jahrhundert gibt es den Mythos über die angebliche Schwermut der Portugiesen, der seinen Ausdruck im Fado findet. Fünfhundert Jahre später fahre nun ich übers Land, lasse getragene Akkordeonklänge und den wehmütigen Gesang einer fantastischen Frauenstimme über mich ergehen – und wenn mir Tränen in den Augen stehen, muss ich die nächste Serpentine bewältigen. Trübsinn und Lenkrad lassen sich nicht vereinbaren. Ebenso wenig wie das Leben zuviel Traurigkeit verträgt. Irgendwann muss man ja auch wieder lachen können. Oder lächeln. Wenigstens. Okay: Adieu Fado! Doch die anderen Sender haben Sendepause. Aus den Boxen rauscht es wie das Meer.

Nach den Bergen wird die Strecke wieder übersichtlicher. Kaum Kurven. Den Wagen hinter mir sehe ich trotzdem nicht kommen, höre ihn nicht, rechne auch nicht mit einem anderen. Das ist seit beinahe einer Stunde das einzige Auto, dem ich begegne. Ohne Vorwarnung überholt es mich. Jetzt, auf gleicher Höhe, riskiere ich einen Blick rüber. Durchs offene Seitenfenster sehe ich die Fahrerin, ihr Gesicht ist ein Schatten, ihr Kleid auberginefarben. Dann ist sie vor mir, rauscht hinter die nächste Kurve ... ­­und bleibt verschwunden, als hätte die rote Erde sie aufgesaugt. Nirgendwo führt eine Abzweigung in die allmählich flacher werdende Landschaft. Zumindest auf den nächsten Kilometern. Der schwarze Kleinwagen muss einen Raketenantrieb unter der Haube haben. Abgezischt. Ebenso schnell vergesse ich die Begegnung wieder.

Der Weg von Aljezur am Atlantik bis nach Evora im Landesinneren ist noch weit. Einsam bleiben auch hier die Straßen, seltsam leer, als gäbe es kein Leben mehr. Auf den weiten Ebenen schmoren Stein- und Korkeichen in der Sonne, verfallen alte Gehöfte zwischen von Gestrüpp verfilzten Feldern. Ruinen. Erst um Evora herum wird es wieder lebhafter mit dem Verkehr. Abseits der Straße ragen mannshohe Felsnadeln aus der dürren Erde. Die Menhire und Monumente aus der Steinzeit wirken wie vom Himmel gefallen. Ob ich ausgerechnet hier an mein Ziel gelange, bezweifle ich. Im Moment ist sowieso der Weg das Ziel. Trotzdem steige ich aus, um die „Hinkelsteine“ zu sehen. Die Gluthitze raubt mir den Atem. Von den aufrechten Felsen steigen flimmernde Wellen auf, lassen den Horizont verschwimmen. Eine Frau in auberginefarbenem Kleid tanzt durch das Hitzeflirren, als wäre sie ein lebendig gewordenes, verwischtes Aquarellbild. Ob sie die Frau aus dem rasanten Kleinwagen ist? Die Farbe ihres wehenden Kleides würde passen. Nur, so wie sie auftauchte, zerrinnt die weibliche Gestalt zwischen den Steinen wie ein Phantasiegebilde. Ein Hirngespinst, das sie in Wirklichkeit war – und womöglich eine Vorsehung. Ich weiß, wenn man so drauf ist, Gespenster am helllichten Tag zu sehen, sollte man sich lieber nicht ans Steuer setzen. Na ja, weiß ja keiner. 

Auf dem Rückweg von Evora, wieder nahe am Meer, halte ich an einem ziemlich heruntergekommenen Gasthaus. Eine nagelneue, dunkelblaue Limousine parkt unter Schatten spendenden Pinien. „Hà Sardinhas“, („es gibt Sardinen“) steht auf einer Schiefertafel, ungelenk mit Kreide geschrieben. Der Geruch von Holzkohlengrill versucht den von Eukalyptusbäumen zu vertreiben. Eine eigentümliche Mischung, die ein wenig schwindlig macht. Ein alter Mann mit Schiebermütze sitzt in einem abgewetzten Gartenstuhl, Zigarette im Mundwinkel, und der Rauchfaden kräuselt senkrecht in die Abendluft. An einem winzigen Weinglas hält er sich mit fleckigen Händen fest. Seine kleinen, schwarzen Augen beobachten mich. Dann lächelt er freundlich, ohne dass ihm der Stummel aus dem Mundwinkel fällt, und zeigt Lücken zwischen schiefen braunen Zähnen. Drinnen läuft ein Fernseher. Laut. Nicht mal Fußball, aber eine Game-Show mit einem korpulenten, schielenden Moderator, der mit kiekender Stimme die Zuschauer zum Grölen animiert. Zwei kleine, dicke Kinder poltern vor dem Fernsehgerät in der Gaststube. Ihre Mutter ist die Tochter der alten Wirtsleute und heute zu Besuch, modisch teuer gekleidet, in Leder und mit Diamantringen an den Fingern. Ihr also gehört der dicke Schlitten vor dem Haus. Sie erzählt lebhaft, sprudelnd wie ein Wasserfall von Lissabon, und von ihrem Mann, der Personalchef bei irgendeinem wichtigen Konzern ist. Oma hat eine dick geränderte Brille auf und wirkt mit den großen Augen hinter dem Glas schwer beeindruckt über den Reichtum ihrer Nachkommen. Sie ist stolz darauf und schenkt den Kindern Lollys, doch sie wollen sie nicht, lachen sie aus. Oma seufzt und wischt sich umständlich die Hände an ihrer fleckigen Schürze ab, die den Aufdruck einer riesigen Blüte trägt. Von welcher Pflanze ist nicht mehr zu erkennen. Verwaschen. Sie fragt mich, was ich möchte. „Sardinhas“. Vom Grill, na klar. Opa kommt rein und setzt sich vor den Fernseher, ohne seiner Tochter einen Blick zu gönnen. Sie kommt aus einer anderen, weit von hier entfernten Welt. In der großen Stadt rast die Zeit. Hier rastet sie. Die Enkel der Wirtsleute grabschen sich aus einem Topf mit Süßigkeiten gierig selbst, was sie haben möchten.

Zwei ungleiche Lebensrhythmen treffen hier aufeinander. Hätte ich nicht Rast gemacht, ich würde mir lieber noch immer Illusionen machen, schöne Gedanken vom harmonischen Zusammenleben der Generationen. Dabei existieren wir alle in unserer eigenen Zeit, leben nebeneinander her, kommen nicht zurecht mit der Vergangenheit unserer Älteren und der Zukunft der Jüngeren. Vermutlich überall, wie ich sehe. Und reicht der Abstand nicht einmal mehr für Konflikte, dann eben nur für Ignoranz. 

Was man aber nun gar nicht umgehen kann, sind diese Sardinen vom Holzkohlengrill, mit gekochten Kartoffeln und ein wenig Gemüse oder Tomaten. Einfach und knusprig, macht aber durstig. Nur ein kleines Glas Wein aus der Region Alentejo dazu, denn ich will fahren, fahren, fahren. Weiter über die Straßen im Süden, nachdem ich schon den Norden und die Mitte abgeklappert habe, mit einer mir selbst unheimlichen, unfassbaren Rastlosigkeit, die mich jedes Mal antreibt, wenn ich einmal im Jahr herkomme, den würzigen Duft atme, den Meer und Wald preisgeben, den leisen Wind spüre, der ungewohnten, schattenhaften Stille lausche. Nur, nichts ist perfekt …

Irgendwann brannte der Wald. Einen weiteren Tag bin ich unterwegs, immer an der Küste entlang, dann den Sternen nach, dem Mond entgegen. Über schwarze Hügel, vorbei an wunden Zedern, reglosen Stümpfen. Wind und Regen besiegen am neuen Morgen den Staub. Ein toter Baum bricht unter der Wut des Sturms. Verkohlter Zeuge eines wütenden Feuers.

Wie eine Gnade ist der Wind, der unaufhörliche Regen. Vor Monaten noch hätte er das traurige Schauspiel in dieser Region verhindern können. Feuerstürme zogen nun über Teile des Landes. Doch der Meereswind glättete wieder die Wogen, sprengte die Fesseln der Zeit, brachte Regen und neues Leben. Grün spitzt erneut zwischen den nackten Felsen, und als junge Triebe an vermeintlich toten Bäumen, schießt trotzig und kraftvoll aus verbrannter Erde. Schwarzstörche ziehen mit den Wolken, und zwischen den feuchten Güssen regen sich Vögel mit noch schüchternem Gesang. Der Asphalt dampft, als sie Sonne plötzlich grell und heiß die Wolken zerreißt. Am linken Straßenrand taucht eine menschliche Gestalt aus dem Nichts auf. Eine Frau in Aubergine. Schon wieder? Undeutlich zu erkennen im Dunst, der wie ein Bach über der Straße auf mich zutreibt. Ob ich anhalten soll? Was macht sie hier, ziemlich weit entfernt von einem Haus? Hatte sie einen Unfall? Ein Überfall? Noch während ich bremse, ist der Farbtupfer in Frauengestalt nichts als ein Medronhostrauch, ein Erdbeerbaum. Ob ich es wohl übertreibe, dieses Treiben lassen? Wer Menschen sieht, wo keine sind, gilt im Allgemeinen als ziemlich abgedreht. Nur, aufgeben ist nicht! Jetzt, da die Hoffnung seinen Atem über das Land haucht. Wie das Leben nach Waldbränden, brauche auch ich noch etwas Zeit. Meine Zuversicht ist groß, die Suche nach dem Ungreifbaren könnte bald enden. Am nächsten Tag ist es soweit!

Ein bisschen schwieriger als auf den oft einsamen Straßen im Landesinneren wird es auf denen in Richtung Lissabon. Der Verkehr nimmt zu, und dann ist es wie überall: das Risiko auch. Halsbrecherische Ausweich- und Überholmanöver im Minutentakt sind jetzt nicht selten. Und in der Nähe von Azeitão, etwas südlich von Lissabon, passiert es: Der Wagen vor mir wird geschnitten, kommt nach rechts ab und landet zwischen den Rebstöcken eines riesigen Weingartens. Ich halte an, springe aus dem Auto und laufe zu dem dunklen Kleinwagen. Die Tür geht auf, und eine Frau in auberginefarbenem Kleid steigt aus. Nicht doch! Nicht schon wieder! Sie taumelt ein wenig, hält sich den Kopf, aber ihr scheint nicht viel passiert zu sein. Der Wagen hat ein paar Schrammen von den Rankdrähten der Weintriebe. Ich frage sie, ob ich ihr helfen kann. Sie ist aufgeregt nach dem Schock, winkt ab, sieht mich überrascht an. „Du?“ sagt sie auf Deutsch. Es ist tatsächlich Dalilah! Ich bin also doch in der Wirklichkeit angekommen. Wir kennen uns seit Jahren, die kleine, schwarzhaarige Dalilah und ich. Wir belegten dieselben Fächer an der Uni, und bei Festen tanzten wir Rock ’n’ Roll was das Zeug hielt. Ihre portugiesischen Eltern lebten seit langem in München, und Dalilah sprach so gut Deutsch wie ihre Muttersprache. Trotz der Situation schmunzeln wir beide. Verlegen. Ungläubig.

Ihren Wagen bringen wir erstaunlich leicht aus dem Gewirr aus Weinranken, Blättern und Drähten zurück auf die Fahrbahn. Sie will keine Polizei holen, und die anderen Fahrzeuge umkurven gezwungenermaßen unsere zwei Hindernisse am Straßenrand, hupende, wild gestikulierende Fahrer inbegriffen. Zwanzig Minuten später, auf der Terrasse eines Restaurants, erfahre ich, sie hat vor Jahren das Haus ihrer Eltern geerbt, hier in Azeitão, so ein hübsches, ländliches mit Kamin und großem Garten. Jedes Jahr fährt sie hierher, und vielleicht bleibt sie bald für immer.

Wir reden und lachen, essen Ziegenkäse und Brot, Oliven und Sardinenpaste, kräftig mit Korianderkraut gewürzten Fischeintopf, trinken Wein, und können den Zufall unseres Wiedersehens kaum fassen. Ob ich noch Rock ’n’ Roll tanze, fragt sie schelmisch und schielt auf meinen Bauchansatz. Wie ich dieses Lachen liebe, die Art der Portugiesinnen, die oft so unglaublich lebhaft ist, ohne albern oder peinlich zu wirken. Und diese Augen, dunkel und spiegelnd wie schwarze Oliven, in denen man sich selbst erkennt, als wäre man in ihnen ertrunken.

Nein, sie habe niemanden. Ja, mal jemanden, aber das sei lange vorbei… und ich? Dasselbe. Und wieder ihr Lachen, kehlig, und ein Blick, bei dem mir die Sicherungen durchbrennen.
„Ich habe dich nie vergessen“, sage ich und nehme ihre bronzefarbene, zarte Hand in meine. Es ist nicht einmal gelogen, obwohl nie ernsthaft etwas zwischen uns war. Vielleicht aber war sie es, die mein Interesse für dieses Land unbewusst geweckt hatte. Sie steckt meinen Frontalangriff locker in die Tasche: „Natürlich hast du mich nicht vergessen, sonst wärst du nicht hier, oder?“ 
Unsere Fahrt setzen wir gemeinsam fort. Ich immer hinter ihr her. Wir fahren in die Berge, staunen hinunter auf Strände und Buchten, überqueren die Tejomündung über die längste Brücke Europas, die Ponte Vasco da Gama, stehen in Lissabon im Stau, lassen uns zu Fuß durch die Stadt treiben, setzen uns in einem Café neben die Bronzestatue Fernando Pessoas, Portugals berühmtesten Dichter. Und am Abend sind wir wieder unterwegs, zurück in den Süden Lissabons, durch Weinberge und Pinienhaine. Ab und zu steigt eine Rauchsäule aus dem Wald empor, und ein Schauer läuft über meinen Rücken, denke ich an die Landschaft mit ihren langsam heilenden Wunden, durch die ich gestern noch gefahren bin. 

Dalilah ist zuhause angekommen. Ich könne bleiben, wenn ich wolle. Es wäre genug Platz, und wir haben uns sicher viel zu sagen. Wieso fühle ich mich, als wäre ich endlich am Ziel? Doch, in drei Tagen muss ich zurück, und ich verheimliche es ihr nicht.

„Drei Tage sind zweiundsiebzig Stunden“, sagt Dalilah und lächelt, „einundsiebzig mehr als zuletzt…“

Ich weiß: eine Stunde lang regnete es damals, als wir uns zum letzten Mal sahen, allein im Bistro vor der Uni. Es war der ultimativ letzte Tag vor meinem Auszug aus der Studentenbude. Wir warteten bei viel Kaffee und Apfelkuchen, bis es zu regnen aufhörte. Wir stellten einander nicht die Frage, ob wir uns wiedersehen werden. Ob wir uns wiedersehen wollten. Dann gingen wir unserer eigenen Wege. Umwege. Bis jetzt.

© Peter Brand/Rosenheim                                                                                        

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(Finalteilnahme fza-Werkstattpreis / Verlag fza - Wien)

                                              Im Namen der Sonne

„Menschen auf betonierten Plätzen kauen zufrieden an Burgern, fragen nicht, wo das Korn dafür wächst. Geht es uns gut, geht es gewiss allen gut. Wenn wir jammern, samt unserem reichlichen Wissen, beklagen wir uns über die Welt, weil wir sie uns nicht einverleiben können. Wir sind nicht imstande, sie vollends zu fressen. Wir verdauen schon Zukunft, also etwas, das wir nie essen werden, und so wächst der Hunger, macht uns gierig auf alles, was wir doch nicht verschlingen können. Wir verzehren, was wir nicht sehen, schlucken selbst die lästigsten Fliegen und sind, auch mit unserem Stuhlgang, zufrieden. Werfen die Brotreste in stählerne Körbe, oder daneben. Oder in den Brunnen, zu Kronenkorken und PET-Flaschen im tanzenden Wasser, worin früher Münzen landeten, damit sie Glück bringen. Was bringt ein versenkter Kronenkorken? Zwischen Hochhaus- und Stahlglasfassaden schmecken Döner, Sandwichs und Hot Dogs schnell mal nach nächtlicher U-Bahn, getunnelt und rätselhaft leer, und werden deshalb im Eiltempo vertilgt. Nichts bleibt von der Würde der Nahrungsaufnahme, Stadtmenschen in steinernen Sümpfen versinken in Gedankenlosigkeit, dem nächsten Event entgegen, hochgradig erregt, auf hartem Asphalt in der Stadt…“ 

Der das schreibt, heißt Jimmy. Lebhafte Frisur, schwarz glänzend. Sportsakko. Wirkt bieder und angepasst. Das Rebellische in ihm tippt er in seinen Laptop. Anonym. Er tut, was er kann: tagsüber im Laden, Backwaren vom Industriebäcker verkaufen, abends im größten Treffpunkt des Stadtteils, schreiben. Ein Caipirinha reicht Jimmy für zwei Stunden im Bistro „Meÿer“. (Mit den individuellen zwei Punkten über dem Ypsilon besitzt es den ultimativen Erkennungswert.)
Auch der Stadtsektor, in dem Jimmy lebt, hat einen eigenen Namen. Es braucht immer nur einen Teil der Stadt, ein „Viertel“ mit Titel, mit denen sich auch einer wie Jimmy identifizieren kann. Identität ist wichtig im Ameisenhaufen. Man sollte halbwegs überschaubar wissen, aus welchem Stück des Gewusels man sich herauswagt. Nach einer gewissen Dorfmentalität verlangt der Mensch im riesigen Ganzen der Großstadt, Wohnstolz einer Sippe, die eine übersichtliche Zahl an Individuen hat. Zellen der Geborgenheit, wie diese Kneipe, in die sich Jimmy zurückzieht, wenn er schreibt. Wenn er Anregungen sucht für sein Bild von der Stadt. Sprechende Stadtbilder. Er ist dreißig, vielleicht darüber und hat hellblaue Augen wie ein Husky. Unruhig suchen sie umher in der Kneipe, bekannte Gesichter aus seinem Viertel aufspürend, wartend auf selbstredend beschreibbare Typen. Völlig allein unter der Laufkundschaft, findet er mit routinierten Blicken Gefallen an Blondinen und langbeinigen, vollbusigen Schwarzhaarigen, unterbrochen nur von Dagi, der coolen Bedienung, rothaarig wie eine Feuersbrunst, scharfzüngig wie ein Kampfhund. „Hey, Jimmy! Pizza?“ Jimmy saugt an seinem Strohhalm und verneint, zieht den Laptop näher. Er tut so, als schreibe er im Moment Wichtiges. Literatur. Weckt flüchtiges Interesse. In Wahrheit wartet er auf ein Abenteuer, obwohl er müde ist, heute am Donnerstag, das Wochenende noch weit vor sich zum Runden drehen. Ein Single, Großstadtsingle. Angespannt, fahrig, fieberhaft. Dschungelsingle, sieht den Urwald vor lauter Bäumen nicht. Dagi serviert am Nebentisch. Warum sieht Jimmy sie nicht? Sie ist auch ein Baum im Urwald, ein fest verwurzelter, an dem er sich festhalten könnte, bevor er mal aus den Ästen oben in den Wolken fällt. Noch bleibt er lieber oben, bei den schwer erreichbaren Früchten, buntem, süßen Obst, auf das er stets Diarrhöe bekommt, und sich dann doch wieder verführen lässt. Dagi weiß das und lächelt. Soll er Durchfall kriegen, bis er ’s leid ist. Sie stellt ihm eine Pizza unter die Nase. „Geht aufs Haus.“ 

Das Essen wird kalt. Jimmy schreibt:
„Draußen auf dem Land ginge um diese Zeit die Sonne unter. Im Schatten der hohen Häuser ist sie es schon längst. Der Mond liegt, noch bleich im Dämmerlicht, hoch oben auf dem Dach des Bankenhochhauses. Er, Mr. Moon, ist abhängig von Mrs. Sun, um zu leuchten. Und so grüßt er, im Namen der Sonne, von dort oben uns Stadtmenschen. Ich allein bemerke seinen Gruß. Die anderen haben keinen Blick für ihn, heute nicht, und morgen nicht, wenn er voll ist. Sie haben ihr eigenes Licht. Millionenfache kleine Monde, die ohne Sonne strahlen, bunt, grell, damit wir in der Stadt die Nacht zum Tag machen können. Wenn wir wollen. Tage und Nächte ohne Rhythmus, pausenlos pulsierend, vierundzwanzig Stunden geöffnet, sieben Mal in der Woche.
Großstädter sind beschränkt, in ihre Schranken gewiesen, wissen nichts vom Erntejahr, nichts vom Sähen, nichts von Früchten, vom Melken und Schlachten, vom Mähen und den Fragen ums Wetter. Sie essen, trinken, werfen weg, verbrauchen als Verbraucher sogar noch das Gebrauchte, in Secondhand-Shops und Schnäppchenmärkten, den Wertstoffhöfen des Reichtums, Wühltische für die Müllmenschen, für die Verlierer, die Langsamen, die nicht mitkommen und nicht mitbekommen, wie der Hase läuft: schnell.
Manchmal sehen sie den Mond, wenn sie aufschauen und beten, es möge anders laufen, besser, ein wenig gemächlicher für alle, bescheidener. Genügsamer. Und dann grüßt der Mond lächelnd zurück. Er strahlt nicht wie die Sonne. Doch er verneigt sich in ihrem Namen.“

Zufrieden klappt Jimmy den Laptop zu. Er lächelt Dagi an. Dagi strahlt. Könnte es sein, er ahnt, wie sehr sie ihn mag? Jimmy isst die kalte Pizza, denkt: Dagi hat ein Mondgesicht.

© Peter Brand / Rosenheim